PROGRAMMHEFT

In unserer medial aufgerüttelten Zeit überlagert ein Skandal den nächsten, komplexe Verflechtungen werden akribisch herausgearbeitet und an das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Staub wird aufgewirbelt und – je nachdem – so gut wie möglich weggeräumt.

… dwelling in an age of global unrest.
Michael Marder: Dust, 2016


Das viel benutze Suffix -gate beschreibt Skandale mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen. Doch sind die eigentlichen Skandale nicht jene, die nicht als gate fassbar gemacht werden? Jene, die so breitflächig in unserer Gesellschaft verwoben sind, scheinbar so komplex und unangreifbar, dass es leichter ist, ein systematisches Ungleichgewicht aufrecht zu erhalten, als eine tiefgreifende Neustrukturierung zu wagen?
Im Ausnahmezustand zurückgeworfen auf die eigenen Körper erforschen vier Tänzer:innen deren physischen Handlungsspielraum und natürliche Widerstandskraft entgegen der Schwerkraft. Sie bewegen sich in einem interaktiven Bühnendesign, bestehend aus neun weißen Schnüren, 18 Magneten, fünf Motoren und einem damit verbundenen Trackingsystem. Mit physischer Poesie beschreibt – g a t e das Sichtbarwerden von Unerwartetem und entführt in ein elastisches Raumkonstrukt, das den sicher geglaubten Boden ins Wanken bringt sowie neue Möglichkeitsräume und Perspektiven eröffnet.

Konzipiert als sechseckige Bühne mit Zuschauer:innen an drei einander gegenüberliegenden Seiten, lädt die installative Tanzperformance zum Verweilen ein, zum Staunen und Stauben. Die installative Webversion ermöglicht es, zwischen diesen drei Zuschauerpositionen zu wechseln und die Performance noch zusätzlich aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Die Uraufführung der Performance als Live-Version fand am 29. Mai 2021 im Kosmos Theater in Wien statt.


Künstlerische Gesamtleitung: Inge Gappmaier | Tanz: Olivia Hild, Nanina Kotlowski, Patric Redl, Inge Gappmaier
Interaction Design & Licht: Robert Läßig | Sound Design & Live-Musik: Patric Redl | Bühnenbild: Inge Gappmaier & Robert Läßig Dramaturgie: Lisa-Marie Radtke | Hospitanz und Outside-Eye: Melina Papoulia | Mitarbeit Kostüm: Cosima Baum
Film: Ulrich Reiterer | Kamera: Fabian Czernovsky, Ulrich Reiterer, Patrick Topitschnig | Ton-Set & Mischung: Philip Zauner
Programmierung interaktive Webversion: Robert Läßig | Website: Inge Gappmaier
Produktion in Zusammenarbeit mit ProSiBe Siglind Güttler & Bernhard Werschnak

Dank an LASA Berlin – Dipl. Ing. Max Weidling, Elischa Kaminer,
TanzTheaterPerformance WUK und Arbeitsplatz Wien sowie
Stephan Dorn, Lise Lendais, Manuela Rampetsreiter und Stefanie Sommer.

Eine Produktion von varukt | Inge Gappmaier, Kosmos Theater und brut Wien.
Gefördert von Stadt Wien Kultur und dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport.


Weitere Inspirationen zur Performance:

… I can no longer afford to turn a blind eye toward it (…). The fragile balance between visibility and invisibility is then tipped: the status of dust changes from being part of the medium of sight to a seen object.
Michael Marder: Dust, 2016

Im Spiel mit Fäden geht es um das Weitergeben und In-Empfang nehmen von Mustern, um das Fallenlassen von Fäden und um das Scheitern, aber manchmal auch darum, etwas zu finden, das funktioniert, etwas Konse- quentes und vielleicht sogar etwas Schönes; etwas, das noch nicht da war, ein Weitergeben von Verbindungen, die zählen; ein Geschichtenerzählen, das von Hand zu Hand geht, von Finger zu Finger, von Anschlussstelle zu Anschlussstelle – um Bedingungen zu schaffen, die auf der Erde, auf Terra, ein endliches Gedeihen ermöglichen. Fadenspiele erfordern, dass man still- hält, um zu empfangen und weiterzugeben.
Donna Haraway: Unruhig bleiben, 2018

Giorgio Agamben: Profanierungen, 2005 | Tristan Garcia: Das intensive Leben, 2017 | Alva Noë: Strange Tools. Art and Human Nature, 2015 | Joseph Vogel (Hg.): Gemeinschaften, 1994